Die Pflege von nahestehenden Menschen ist für viele Alltag. Was das wirklich bedeutet, kann nur verstehen, wer es erlebt. Im Rahmen der Recherche für mein Buch über den assistierten Suizid meiner Eltern fehlten mir Informationen über den aktuellen Stand der Pflege. Deswegen habe ich die Expertin Gabriele Görnert interviewt.
Verbindung durch Communities
Gabriele Görnert und ich haben uns über Skool, also in einer Community, kennengelernt. Skool ist eine Plattform, auf der die Mitglieder der Communitys respektvoll miteinander umgehen. Menschen begegnen sich dort auf Augenhöhe, ohne den üblichen Social-Media-Trubel, ohne Werbung und ohne Algorithmus. Für mich ist das eine sehr gute Möglichkeit, mich mit interessanten Menschen zu vernetzen – so wie mit Gabriele.
Gabriele hat meinen Beitrag zum assistierten Suizid meiner Eltern achtsam kommentiert. Das war für mich der Anlass, direkt mit ihr in den Austausch zu gehen. Schon im ersten Gespräch wurde deutlich, wie viel Erfahrung sie mitbringt, fachlich und persönlich.
Gabrieles Blick auf assistierten Suizid
Der Fall der Kessler-Zwillinge hat das Thema assistierter Suizid stärker in die breite Öffentlichkeit gebracht. Seitdem sprechen mehr Menschen darüber, auch weil sie den Wunsch nach Selbstbestimmung im Krankheitsfall nachvollziehen können.
Während des Gesprächs zwischen Gabriele und mir wurde schnell deutlich, wie vorsichtig Gabriele mit dem Thema assistierter Suizid umgeht. Sie spricht offen darüber, ohne in schnelle Bewertungen zu verfallen. Sie ist gläubig und Prädikantin, würde für sich persönlich daher zuerst nach anderen Wegen suchen.
Sie kennt Menschen mit schweren, unheilbaren Erkrankungen, wie z. B. ALS (Amyotrophe Lateralsklerose). Das ist eine fortschreitende Erkrankung, die erst zu Muskelschwäche, dann zu Lähmungen und schließlich zum Tod führt.
Sie sagt offen, dass sie sich in einem solchen oder vergleichbaren Fall ebenfalls mit dem Gedanken an einen assistierten Suizid tragen würde. Für sie bleibt entscheidend, dass jede Entscheidung individuell ist und weder von außen beurteilt werden sollte noch beurteilt werden darf.
Für Gabriele ist Pflege Alltag
Gabriele hat einige Jahre als Familienhelferin für ein Jugendamt gearbeitet und kennt die Herausforderungen in belasteten Familiensituationen aus der Praxis. In ihrem Hauptberuf arbeitet sie als Schriftdolmetscherin für hörgeschädigte Menschen. Zusätzlich pflegt sie ihren 86-jährigen Vater mit Pflegegrad 4 und ihre Tochter mit Pflegegrad 3. Damit gehört sie, wie viele andere, zur großen Gruppe der pflegenden Angehörigen.
Pflege in Zahlen
Ein Blick auf die Zahlen zeigt, welchen hohen Stellenwert pflegende Angehörige in Deutschland haben. Laut aktueller Pflegestatistik wurden 2023 rund 4,9 Millionen Menschen zu Hause betreut. Sechs von sieben Pflegebedürftigen leben so versorgt.
Über 3,1 Millionen wurden ausschließlich von Angehörigen gepflegt. Bei etwas mehr als einer Million waren ambulante Pflegedienste beteiligt. Ohne die Arbeit dieser Angehörigen wäre die Versorgung in Deutschland nicht aufrechtzuerhalten.

Pflegende brauchen mehr Unterstützung
Im Gespräch darüber, was pflegende Angehörige entlasten würde, spricht Gabriele einen Punkt an, der viele betrifft: Die häusliche Pflege ist sozialrechtlich bis heute nicht ausreichend abgesichert. Rentenpunkte gibt es nur für Menschen, die ihre Arbeitszeit auf bis zu 30 Stunden in der Woche reduzieren können. Für viele ist das nicht möglich.
Gabriele selbst arbeitet Vollzeit, weil es finanziell notwendig ist. Damit fällt sie aus dieser Regelung heraus, obwohl sie zusätzlich pflegt.
Für sie ist klar: Pflege braucht eine stabile finanzielle Basis.
Ein Modell ähnlich dem Erziehungsgeld wäre für viele Angehörige eine echte Unterstützung, damit Pflege zu Hause für alle Beteiligten gut möglich ist. So gehen Pflegende ständig an ihre Grenzen oder darüber hinaus.
Pflegende fallen selbst oft hinten runter
Gabriele sieht durch ihre eigene Situation, wie viele Angehörige an ihrer Belastungsgrenze stehen. Vieles passiert im Stillen. Viele übernehmen Aufgaben, die kaum jemand wahrnimmt und gleichzeitig fehlen Orientierung und verlässliche Informationen. Genau hier setzt sie an.
Viele wissen nicht, welche Unterstützung sie bekommen können oder wie genau sie einen Pflegegrad für einen Angehörigen beantragen sollen. Deshalb teilt sie ihre Erfahrungen dazu und erklärt, welche Schritte beim Antrag wichtig sind und worauf man achten sollte.
Pflege beantragen ist nicht einfach
Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie kompliziert der Prozess sein kann. Bei der ersten Begutachtung ihrer Mutter antwortete sie auf die Frage, ob diese noch selbst die Treppe hinaufgehen könne, zunächst mit „Ja“. Erst später wurde ihr klar, dass die zusätzliche Information, dass sie dabei hinter ihr lief, weil diese das Gleichgewicht verlieren könnte, wichtig gewesen wäre. Solche Details werden oft nicht erwähnt. Mit Folgen. Gerade Menschen, die zum ersten Mal mit Pflege zu tun haben, wissen vieles nicht und bekommen deswegen zu wenig Unterstützung.
Experten für Pflege einbinden
Neben eigenen Erfahrungen nutzt Gabriele auch die Expertise anderer Stellen. Sie ist Mitglied im VdK, der große sozialrechtliche Beratung anbietet und Betroffene bei Bedarf auch rechtlich unterstützt. Es gibt zudem weitere Sozialverbände, die bei der Beantragung von Pflegegraden helfen. Doch man muss sie kennen und wissen, wohin man sich wenden kann.
Der Pflege Club ist eine Community für Pflegende
Aus diesem Grund hat Gabriele ihre eigene Community auf Skool gegründet. Im Pflege Club vernetzen sich pflegende Angehörige, teilen ihre Erfahrungen und unterstützen sich gegenseitig – fachlich und emotional. Der Austausch ist offen, realistisch und ohne Berührungsängste. Wenn es nötig ist, tragen die Mitglieder einander ein Stück mit.
Gabriele weiß: Gemeinsames Wissen entlastet, und gegenseitige Unterstützung macht vieles leichter. Sie ist überzeugt, dass wir für eine gute Zukunft eigene Lösungen entwickeln müssen, im Alltag und im Miteinander.
Pflege in Zukunft
Im Gespräch wird deutlich, dass Gabriele sich auch über ihre eigene Zukunft Gedanken macht. Sie sagt offen, dass sie nicht möchte, dass ihre vier Kinder eines Tages ihr eigenes Leben zurückstellen müssen, falls sie selbst einmal pflegebedürftig wird. Das führt schnell zu der Frage, welche Wohn- und Lebensformen im Alter sinnvoll und machbar sind.
Gabriele beschäftigt sich damit schon länger. Eine Facebook-Gruppe, der sie seit etwa 2017 folgt, „Ostsee-WG mit alten Freunden“, hat sie zum ersten Mal bewusst auf das Thema aufmerksam gemacht. Dort berichten acht Menschen humorvoll und ehrlich von den Höhen und Tiefen ihres gemeinsamen Wohnprojekts. Diese Einblicke haben sie damals dazu gebracht, über alternative Wohnformen nachzudenken, die Nähe, Unterstützung und Eigenständigkeit miteinander verbinden.
Gabrieles Tipps, wenn du mit Pflege konfrontiert bist
- Hol dir früh Unterstützung.
Versuch nicht, alles allein abzufangen. Das rächt sich später – körperlich und mental. - Rede mit Menschen, die das schon erlebt haben.
Der Austausch mit anderen pflegenden Angehörigen kann dich vor typischen Anfangsfehlern schützen und dir mentalen Halt geben. - Kläre die Formalitäten sofort.
Pflegegrad beantragen, Unterlagen sortieren, Zuständigkeiten klären. Je schneller das läuft, desto früher bekommst du die Leistungen, die dir zustehen. - Sag die Wahrheit über den Zustand des Angehörigen.
Kein Schönreden bei der Begutachtung. Entscheidend ist, was regelmäßig nicht mehr geht – nicht die Ausnahmen an guten Tagen. - Nimm Entlastungsangebote an.
Entlastungsbetrag, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege – das ist kein Extra, sondern notwendig, damit du durchhältst. - Schau auch auf dich.
Schlaf, Essen, Pausen – das sind deine Grundpfeiler, damit du nicht ausfällst. - Akzeptiere deine Grenzen.
Wenn du sie ignorierst, wirst du irgendwann selbst Unterstützung brauchen.
Aktuelle Informationen und Zugang zum Pflege Club gibt es direkt über ihre Skool-Community.
Meinen Artikel über den assistierten Suizid meiner Eltern findest du hier.
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Bilder: privat von Gabriele Görnert und Pixabay: Sabine van Erp


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