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Assistierter Suizid und selbstbestimmtes Sterben

Meine Eltern haben assistierten Freitod begangen und sich vor kurzem gemeinsam selbstbestimmt aus dem Leben verabschiedet: Das bedeutet, sie haben bei ihrem Ableben Hilfe in Anspruch genommen.

Sie waren 84 und 87 Jahre alt und das Leben wurde für sie immer mühsamer. Es war absehbar, dass sie bald viel mehr Unterstützung brauchen würden. Sie waren lebens-müde.

Bevor sie mit uns darüber gesprochen haben, hatte ich keine Ahnung, dass das in Deutschland möglich ist. Und da war ich nicht alleine.

Deswegen schreibe ich diesen Artikel. Ich finde, wir brauchen zu diesem Thema mehr Informationen und eine weiterführende Diskussion.


Folgenden Fragen zum assistierten Suizid gehe ich nach:

  • Gilt Selbstbestimmung auch für das Sterben?
  • Und was bedeutet das für die, die bleiben?
  • Wie läuft ein assistierter Suizid ab?
  • Was kann den Angehörigen helfen?

Wenn das Leben sich dem Ende zuneigt, bestimmen oft Krankheit, Schmerz oder Angst, wann und wie es weitergeht.

Dann scheint Selbstbestimmung nicht mehr selbstverständlich sein.
 In einer Gesellschaft, in der wir Unabhängigkeit feiern, fällt es uns schwer, loszulassen und anzuerkennen, dass auch der Tod ein Teil dieser Selbstbestimmung sein kann.

Vielleicht ist das Thema deshalb so schwer: Es zwingt uns, hinzusehen.

  • Auf unsere Ängste
  • Auf unsere Werte
  • Auf unsere Endlichkeit


Wie ich den Suizid meiner Eltern erlebte

Als meine Eltern uns vier Kindern von ihrem Vorhaben berichteten, stand ihr Entschluss bereits fest.

Keiner von uns Kindern hat ihre Beweggründe hinterfragt, was ich erstaunlich finde. Uns war allen klar: Die dürfen das, egal, was unsere persönliche Meinung dazu ist.

Ich habe meinen Eltern das gespiegelt. Ob sie wüssten, wie besonders das sei, dass wir sie alle unterstützten. Das konnten sie nicht wirklich nachvollziehen.


Trotzdem fiel es uns allen schwer. Weil unser „Ich verstehe euch“ eben gleichzeitig ein „Ich muss euch gehen lassen“ bedeutete.


Pro und Contra assistierter Suizid


Was dafür spricht

Selbstbestimmung bis zuletzt: Der Wunsch, das eigene Leben auch am Ende zu gestalten, statt ausgeliefert zu sein.

Würde. Für viele ist es ein Ausdruck von Würde, das Leiden zu begrenzen und den Moment des Abschieds selbst bestimmen zu können.

Freiheit. Selbstbestimmtes Sterben kann das Gefühl von Kontrolle und Frieden zurückgeben, besonders bei chronischem Leiden.

Entlastung. Für Angehörige kann es tröstlich sein zu wissen: Der geliebte Mensch kann in Ruhe und bewusst gehen, nicht in Angst oder Qual.


Was dagegen spricht


Ethische Fragen

Dürfen wir wirklich entscheiden, wann das Leben endet? Wo verläuft die Grenze zwischen Selbstbestimmung und Flucht vor dem Leiden?
Besonders in Deutschland, wegen der unter den Nationalsozialisten praktizierten Euthanasie, haben wir, meiner Meinung nach, die moralische Verantwortung besonders genau hinzuschauen.


Gesellschaftlicher Druck. Manche fürchten, dass alte oder kranke Menschen sich „verpflichtet“ fühlen könnten, diesen Weg zu gehen, um anderen nicht zur Last zu fallen.


Emotionale Folgen für Angehörige. Zurück bleiben oft Zweifel, Schuldgefühle, offene Fragen des Umfelds, auch dann, wenn man den Wunsch versteht.


Spirituelle Hintergründe. In vielen Glaubensrichtungen gilt das Leben als Geschenk, das nicht selbst beendet werden darf.

Rückmeldungen aus der Community

Ich habe zu diesem Thema einen Post auf LinkedIn geschrieben. Es gab viele wertvolle Antworten, die mir weitergeholfen haben.

Die meisten waren sich einig: Mit tödlichen Krankheiten mit schlechten Prognosen, wie Krebs oder ALS im Endstadium, ist eine derartige Entscheidung nachvollziehbar.


Themen, die angesprochen wurden

Richtig: es ist sehr gut, dass das BVG 02/2020 das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben festschrieb. Es ist gut, dass die Würde des Menschen nicht nur mit der Autonomie (freies Weltverhältnis), der Selbstbestimmung (freies Selbstverhältnis), sondern mit der Souveränität verbunden wird. Souveränität bedeutet, dass der persönliche Sinn im Leben das Recht auf das eigene Leben in einem einmaligen und einzigartigen Moment, wie es die höchstpersönliche Entscheidung für den Suizid ist, außer Kraft setzt. Leute am Leben erhalten, die nicht mehr wollen.“


Sich mit dieser Art Tod zu beschäftigen ist irgendwie anders. Aber ich finde es auf der einen Seite gut selbst entscheiden zu können, ob und wie man das handhaben möchte.
Obwohl man jede Minute, die man am Leben ist und sein darf, genießen und auskosten sollte.“

Ich empfinde es für mich als ein großes Spannungsfeld, sowohl als Privatperson als auch als Ärztin. Zum einen gehört es zu einer der wichtigsten ärztlichen Aufgaben, das Leiden zu lindern und insofern gibt es einen Teil von mir, der da mitgehen kann.

Zum anderen scheinen mir Leben und Tod / Endlichkeit etwas, das natürlich zu uns gehört und dass man auch dafür sagen kann „alles hat seine Zeit“… und ich frage mich immer wieder: woher kann ich / woher kann man wissen, wann die Zeit ist..? Ich bleibe immer wieder mit vielen Fragezeichen, die ich stehen lasse.“

Meine Mutter hatte diesen Weg auch gewählt. Sie war Gerontologin von Beruf, sie wusste, was alles kommen könnte. Sie hatte viele alte Menschen mit Exit begleitet.
Mit ihrem COPD wurde es immer schwieriger zum Atmen und für sie und uns war klar, dass sie ihren Sterbetag selbst bestimmen würde.“

Der Tod ist so individuell, wie das Leben, genauso wie die Einstellungen dazu. Dementsprechend sollte sich jeder frei nach seinen Vorstellungen und Wünschen entscheiden können, wie es zu Ende gehen soll. Wenn die Angehörigen, die ja auch eigene Bedürfnisse haben, in der Lage sind, jede Entscheidung ihrer Lieben zu respektieren und sogar zu begleiten, dann ist für die Sterbenden in ihrer individuellen Situation schon viel gewonnen.“

Wie läuft ein assistierter Freitod ab?

In Deutschland ist die Rechtslage seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 BVG 02/2020 klar. Es gibt ein Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben. Auch in Österreich und der Schweiz ist das möglich.
Ein assistierter Suizid ist erlaubt, solange die Person die letzte Handlung selbst vornimmt, etwa ein Medikament einnimmt.
Verboten bleibt die „aktive Sterbehilfe“, also wenn jemand eine tödliche Substanz direkt verabreicht (§ 216 StGB).


In der Praxis bedeutet das:

  • Die betroffene Person äußert den klaren Wunsch, ihr Leben selbstbestimmt zu beenden
  • Beratung & Organisation: Viele wenden sich an Organisationen, die auf Sterbebegleitung spezialisiert sind. Sie informieren, prüfen und begleiten den gesamten Prozess.
In unserem Fall war es ein Sterbehilfeverein.
  • Ärztliche oder psychologische Prüfung: Es wird geprüft, ob der Wunsch dauerhaft, ernsthaft und frei von äußerem Druck ist. Die Person muss urteilsfähig sein
  • Durchführung:
 Das entscheidende Merkmal ist: Die Person führt den letzten Schritt selbst aus, z. B. durch das Öffnen einer Infusion. Niemand anderer greift aktiv ein. Es ist eine bewusste, selbstverantwortete Handlung.

Was der assistierte Freitod mit mir macht

Ich erinnere mich an den Moment, als ich verstand: Das ist wirklich ihr Wunsch. Das war der Moment, als ich anfing, zu trauern. Als Tochter fühlte ich mich hin- und hergerissen zwischen Respekt und Schmerz. Ich wollte den Wunsch meiner Eltern achten, aber ein Teil von mir sagte: „Bleibt!“

Dieses Trauern startete für mich mit der Absichtserklärung Anfang Mai. Es dauerte lange, bis der Todestag, im Juli, feststand. Wir hatten 3 Termine zur Auswahl und meine Eltern haben uns einbezogen.

Das Gute: Es gab mir Zeit, mich zu verabschieden.

Das Schwierige: Das Warten auf den Termin fand ich schrecklich.

Durch diese Erfahrungen habe ich verstanden, dass Selbstbestimmung im Sterben nicht nur etwas über den Sterbenden aussagt, sondern auch über die, die bleiben.

Ich musste loslassen, und zwar beide Elternteile gleichzeitig. Nicht, weil ich es wollte, sondern weil ich die Entscheidung akzeptierte.
Und vielleicht liegt darin die größte Herausforderung: Den anderen seinen Weg gehen zu lassen, auch wenn es einem selbst wehtut.

Was mir geholfen hat


Mein Umfeld hat mich getragen. Einige enge Freunde, enge Arbeitskollegen und meine eigene Familie waren für mich da.

Ich konnte mit einem evangelischen Pastor sprechen, der selbst einen solchen Sterbeprozess begleitet hat.

Bewusstsein. Seit vielen Jahren arbeite ich an mir und lerne mich immer besser kennen und verstehen. Das ist ein wichtiges Werkzeug, dass ich auch meinen Klienten beibringe.


Wir haben keine diesbezügliche Sterbekultur


Wir haben (noch) keine Rituale, die selbstbestimmtes Ableben unterstützen. Das Adjektiv, das mich im gesamten Prozess begleitet, hat ist: „schräg“. Es fühlte sich alles so ungewohnt und komisch an.


Fazit


Meine Eltern haben ein Zeichen gesetzt. Das habe ich gespürt. Ob bewusst oder unbewusst, kann ich nicht sagen.
Ihr Weg hat viele Fragen aufgeworfen und mich und viele andere zum Nachdenken über selbstbestimmtes Sterben gebracht.
Viele fragen mich: Nach den Erfahrungen mit meinen Eltern: Würde diese Art aus dem Leben zu treten, für mich infrage kommen? Ich weiß es nicht und es kommt drauf an.


Wir haben nicht alle Antworten. Aber wir können die wichtigen Fragen stellen:


• Wie möchten wir leben?
• Wie möchten wir sterben?
• Und wie können wir einander so begleiten, dass beides, Leben und Tod, in Würde geschieht?

Wenn du Fragen zum Thema hast, sprich mich gerne an.

Auf LinkedIn findest du meinen Beitrag zu diesem Thema, mit vielen wertvollen Stimmen und Perspektiven.

Karin Abriel hat mich zu diesem Thema für ihren Podcast: Sag doch was! interviewt.

Ich bin Ursachendetektivin und schreibe im Blog zu Themen aus der Persönlichkeitsentwicklung. Fast 20 Jahre lang begleite ich meine Klienten zu mehr nachhaltiger Gesundheit.

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Bilder: privat

© Inge Schumacher

10 Kommentare

  1. Nathalie

    Hallo Inge,
    wie schön, dass deine Eltern diesen Weg gehen konnten.
    Meine sind im gleichen Alter 2024 nach jahrelanger Qual innerhalb von drei Monaten verstorben. Ich habe sie, mit Unterstützung, über Jahre gepflegt – es war die schrecklichste Zeit meines und ihres Lebens. Aus verschiedenen Gründen war ein begleiteter Suizid nicht möglich.
    Ich werde diesen Weg, wenn nötig und möglich , auch gehen , da ich meinen Kindern den Horror, den ich seitens Ärzten, Behörden und Gerichten erlebt habe, auf jeden Fall ersparen möchte.

    • Inge Schumacher

      Hallo Nathalie,
      diese Art von Pflege ist eigentlich unmöglich zu leisten und trotzdem tun das 1,5 Mio Menschen in Deutschland. Eine unglaubliche Leistung über Jahre hinweg. Ich glaube, das können nur diejenigen wirklich verstehen, die es selbst erlebt haben.

  2. Antonia Frau Pointinger

    Wow, das wusste ich auch noch nicht, dass das in Deutschland möglich ist. War bestimmt verdammt schwer, gleich beide Eltern so gehen zu lassen. Dieses in Würde und selbstbestimmt gehen dürfen finde ich großartig.
    Für mich war die Vorstellung Monate, wenn nicht sogar Jahre an irgendwelche Maschinen angeschlossen im Bett vor mich hin sterben zu müssen schon immer schrecklich.

    • Inge Schumacher

      Hallo Antonia,
      ja, meine Eltern haben diesbezüglich meinen Horizont so etwas von erweitert! Ein wichtiges Thema, das es sich lohnt anzugehen.

  3. Brigitte

    Vielen Dank für den Beitrag Inge. Ich habe kürzlich diesen Podcast gehört (https://podcasts.apple.com/de/podcast/sternstunde-philosophie-zimmer-42-mit-barbara-bleisch/id1815911635?i=1000732754225) und das erste Mal gehört, dass der assistierte Suizid auch in Deutschland möglich ist. Ich finde es schön zu wissen, dass – wenn es hart auf hart kommt – ich selbst wählen darf, zu gehen. Ich denke das war natürlich für dich und deine Geschwister ein schwerer Weg. Und für deine Eltern sicherlich auch. Ich habe in den letzten 6 Jahren meinen Bruder, meine Mutter und meinen Vater verloren. Von plötzlich und unerwartet über begleitet auf einer Palliativ-Station bis zum Entschluss, „Schluss, ich will nicht mehr“ und der Unterstützung durch Morphium, war alles dabei. Gehen lassen ist immer schwer.

    • Inge Schumacher

      Danke für den Podcasttip und deine Geschichte. So viele Familienmitglieder gehen zu sehen ist eine Herausforderung.

  4. Jutta Jorzik-Oels

    Danke für diesen Beitrag! – Meine Einstellung dazu ist ambivalent. Ist es so, dass deine Eltern diese Entscheidung getroffen haben (und das juristisch möglich war, ohne dass sie eine tödliche Krankheit hatten? – Meine große Sorge ist, dass in baldiger Zukunft Alten und Kranken der Suizid nahegelegt wird, bei leeren Pflegekassen, steigenden KK -Beiträgen. Zur Zeit beobachte ich mit Grauen, dass in Finnland, wo ich 25 Jahre lebte, ALS-Kranken dringend benötigter Sauerstoff veweigert wird mit dem Argument, ihr „Leiden nicht verlängern zu wollen“.

    • Inge Schumacher

      Da sprichst du ein wichtiges Thema an, Jutta. Und gerade deswegen brauchen wir eine Diskussion zu diesem Thema. Die ganzen möglichen Folgen müssen auf den Tisch.

  5. Steffen

    Ich war am Anfang noch nicht sicher, ob ich das bis zum Ende durchlesen werde. Aber sehr interessant. War der Meinung. man müsste in die Schweiz. Schwierig für die, die da bleiben. Andererseits finde ich die Möglichkeit zur Selbstbestimmung gut.

    • Inge Schumacher

      Danke fürs Dranbleiben und deinen Kommentar!

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